Nicole Eisenman: Sketch for a Fountain, 2017

In der Senke eines Rasenstücks der Münsteraner Wallpromenade lässt den Besucher der Skulptur Projekte 2017 ein ungewöhnliches Kunstwerk innehalten. Seine Formen wirken ungemein vertraut und doch erscheint es in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper; selbst in einer Stadt mit einer langen Tradition vielfältiger skulpturaler Arbeiten im Urbanen Raum. Die rechteckigen Formen des Wasserbeckens stehen gegen die floral-organische Umgebung. Verteilt in und um das Becken sind humanoide Figuren platziert. Flachovale Betonsteine und ein weißes kubusartiges Objekt vollenden die Szene. Ihr auffälligstes Merkmal ist ihre Monumentalität. Sämtliche Figuren sind überlebensgroß und ohne Sockel mit dem Umraum verschmolzen.

In den Boden eingelassen und mit einer dezenten Reihe von Steinplatten umrahmt, sticht das flache Bassin nur in seiner rechteckigen Form aus der Landschaft hervor. Die rahmende Pflasterung fungiert, ob ihrer Ebenerdigkeit nicht als Abgrenzung, sondern als Vermittler zwischen Erdboden und Wasserfläche. Das Fehlen von Schalen, Obelisken oder Säulen und Kaskaden macht diese Wasserfläche zu einem Artefakt der Gegenwart, wie es in zahlreichen Städten zu finden ist, meist in Verbindung mit in den Boden eingelassenen Fontänen. Insofern sticht das Bassin als solches nicht hervor. Zumal über das gesamte Münsteraner Stadtgebiet solche und ähnliche Wasserflächen zu finden sind. Erst die Figuren und das ungewöhnliche Zusammenspiel von rechteckigem Wasserbecken und Rasensenke bestimmen diesen Ort als etwas Besonderes. Steinernes Rechteck steht gegen organische Bepflanzung; französischer Schlosspark steht gegen englischen Landschaftsgarten. Der herrschaftliche Ursprung schwingt in dieser Arbeit ebenso mit, wie die Vereinnahmung ihrer Formensprachen durch das Bürgertum.

Für die Arbeit finden sich keine spezifischen Vorbilder. Aufbau und Bearbeitungsweise zeugen von einem modernen Ansatz und Anspruch: freistehende Skulpturen ohne Sockel, die ein betretbares Environment schaffen. Die Installation lässt bewußt jene Ästhetische Grenze verschwimmen, die Ernst Michalski als Übergang von gestaltetem zu ungestaltetem Raum beschrieb (Ernst Michalski: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte; mit einem Nachw. von Bernhard Kerber. Berlin 1996). Lediglich Versatzstücke historischer Brunnenideen lassen sich ausmachen. Selbes gilt, bezieht man den konkreten ortsspezifischen Rahmen mit ein. Auch für Münster findet sich kein Vorbild, das zitiert worden wäre, oder an das bewusst angeknüpft wurde (vgl. die Zusammenstellung Münsteraner Brunnen in: Henning Grabowski, Peter Sedlacek: Brunnen in Münster. Münster 2016). Dennoch sind einzelne Querbezüge vorhanden. Ob diese intendiert sind oder die Brunnenlandschaft Münsters repräsentativ für deutsche Städte ist, verbleibt offen. Festhalten kann man, dass Eisenman andeutet. Sie bedient sich einer strukturellen Formensprache, die der gesamten Kulturgeschichte des Brunnens entsprungen ist, ohne spezifische Zitate zu tätigen.

Die Installation verbindet Kulturen und Zeiten im gesamten Spektrum europäischer Geschichte. Wie eine Randnotiz beinhaltet dies auch den Beginn der modernen plastischen Kunst. Duchamps „Fountain“ liefert beide Aspekte des Nukleus der dieser Arbeit zugrundeliegenden Ebenen: Urinieren und Brunnen. „Wasser ist lebensnotwendig. Wasser ist gemeinschaftsstiftend und verbindet. Im Prinzip war es bis vor Kurzem noch Gemeingut, doch nicht alle Menschen hatten (und haben) gleichermaßen Zugang zu Brunnen“ (Dorothee Rippmann: „»… zum allgemeinen statt nutzen« Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte“, in: Lippmann et al. (Hgg.): »… zum allgemeinen statt nutzen« Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte. Referate der Tagung des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte, Bern 1. bis 2. April 2005. Trier 2008, S. 9). Das Environment Eisenmans erfüllt jedoch keine solche Funktion innerhalb des Stadtgefüges, außer einer formalen und ästhetischen Strukturierung des Raumes, also einen Ort für den Bürger zu schaffen, der, wie sich zeigen wird, zur Reflektion einlädt. Wie nahezu sämtliche moderne Brunnenanlagen dient diese nicht der Trinkwasserversorgung. Auch wird sich hier niemand die Kleidung reinigen. Insofern mag man die Arbeit auch eher als Wasserspiel, denn als Brunnen bezeichnen. Interessant wird der kulturgeschichtliche Rahmen, bezieht man die faktischen Funktionen des Brunnens als sozialem Ort in historischer Perspektive mit ein. Der Brunnen stellt für mittelalterliche Städte ein öffentlicher Ort dar, der konträr zum Wohnraum steht. Für Zürich beschreiben Sibylle Malamud und Pascale Sutter den Brunnen als sozialen Raum: „Hier waren es vor allem verheiratete Frauen aus sozial besseren Verhältnissen, mit denen beim Wäschewaschen abgerechnet wurde. Der Brunnen oder der Waschplatz als Quelle von Gerüchten und Klatsch ist in den Gerichtsprotokollen kaum fassbar. (…) Bei den männlichen Erspielen spielte der Brunnen als sozialer Ort eine untergeordnete Rolle. (…) Nicht so bei den männlichen Jugendlichen: Der Brunnen war ein Ort, an dem sie nachts ihrem Unmut freien Lauf lassen und anderen Unfug treiben konnten.“ (Sibylle Malamud, Pascale Sutter: „Existenziell, repräsentativ, konfliktbeladen; Öffentliche Brunnen im spätmittelalterlichen Zürich“, in: Lippmann et al. (Hgg.): »… zum allgemeinen statt nutzen« Brunnen in der europäischen Stadtgeschichte. Referate der Tagung des Schweizerischen Arbeitskreises für Stadtgeschichte, Bern 1. bis 2. April 2005. Trier 2008, S. 99)

Formal steht der Brunnen in der Tradition von Frührennaissance- und Barockbrunnen. Die freie Aufstellung von Skulpturen auf einem Platz, ohne eine Einbindung in einen architektonischen Kontext, findet ihren modernen Ursprung in Jacopo della Quercias Fonte Gaia in Siena. In ihm wird „der Anbruch eines neuen Zeitalters erkennbar, denn hier nun spielt die figürliche Ausstattung des Ganzen die Hauptrolle“ (Stefan Morét: Der italienische Figurenbrunnen des Cinquecento. Oberhausen 2003, S. 21). Diese lebensgroßen Skulpturen stellen in ihrer Präsentationsform einen Rückgriff auf die Antike dar. Auch die von Morét für das Quattrocento beschriebene Verbindung von Skulptur und Wasserspiel findet sich bei Eisenman umgesetzt: „Das Wasser wurde also in höchst künstlicher Weise gebändigt und noch nicht, wie später, ab der Mitte des Cinquecento, als Menge zur Schau gestellt“ (Morét 2003, S. 37f). Einen anderen Eindruck mag man durch die rücklings liegende Figur bekommen. Ihr überquellendes Wasser verweist nicht alleine symbolisch auf das Füllhorn, sondern trägt den Überfluss in die Wirklichkeit: Das Wasser versickert ungenutzt im Boden. Zugleich steht die Zierlichkeit der Wasserfontänen im Gegensatz zur Monumentalität der Figuren.

Obgleich es ikonographisch angedeutet und inhaltlich nahegelegt wurde, finden sich keine expliziten Darstellungen von Geschlechtlichkeit oder dem Urinieren. Diese Form einer modernen Prüderie umgeht sämtliche Facetten neuzeitlicher höfischer Heiterkeit. Dennoch finden sich im Katalog zu den diesjährigen Skulptur Projekten Münster Zeichnungen Nicole Eisenmans, welche eine Differenzierung von Geschlechtlichkeit zeigen. Nicht im Bild, aber in einer Bildunterschrift zu einer Skizze, welche eine Figur zeigt, die entfernt der Stehenden Brunnenfigur ähnelt: „The Woman that God forgot“ (Abgedruckt in: König, Kasper et al. (Hgg.): Skulptur Projekte Münster; Ausstellungskatalog LWL-Museum für Kunst und Kultur, 10.6.2017-1.10.2017, Münster. Leipzig 2017, S. 177). Auch Eisenmans malerisches Werk beinhaltet eine explizite Geschlechtsdarstellung. Insofern ist die bewußte Entscheidung zu ihrem Verzicht auffällig. Man mag dies für eine Folge der »Skizzenhaftigkeit« ihrer Münsteraner Arbeit halten. In negativer Konnotation könnte man Eisenman das Zurückhalten ihres eigentlichen Stiles zum Erreichen einer breiteren Öffentlichkeit vorhalten. Die Indifferenz ist aber Programm und die Geschlechtslosigkeit der Figuren unterstützt andere Aspekte der Arbeit.

In ihrer Monumentalität nehmen die Figuren Bezug auf städtische Brunnenanlagen und deren allegorischen oder herrschaftlichen Monumentalplastiken der Vergangenheit. Doch Ihnen sind keine Merkmale oder Attribute beigegeben, die eine Identifikation oder Eingrenzung erlauben würden. Vielmehr sind sie monumentale „Jedermänner“. Ohne eine symbolische Ebene, die eine ikonographische Ausdeutung zuließe, wirken die lose zusammenstehenden Figuren wie die Momentaufnahme einer narrativen Inszenierung. Die Verbindung von Brunnen mit einfachen Menschen als Figurenprogramm tauchte erstmals mit dem aufgeklärten Bürgertum auf (Ostrowski 1991, S. 71).

Eine Verwandtschaft mit Brunnenfiguren, wie dem Manneken Pis ist unwahrscheinlich und nur schwerlich zu belegen. Die kindlichen Überzeichnungen der Körperpartien lassen zwar einen Zusammenhang vermuten; Insbesondere, da Gelächter bei Philostratus dem Älteren mit der Figur eines urinierenden Kindes in Verbindung gebracht wird (Harry Murutes: „Personifications of Laughter and Drunken Sleep in Titan’s ‚Andrians‘“, in Burlington Magazine Bd. 115, 8, 1973, S. 518-525; diesen Hinweis verdanke ich Ursula Weber-Woelk: »Flora la belle Rommaine«; Studien zur Ikonographie der Göttin Flora im 17. Jahrhundert. Univ. Diss. Köln 1995, S. 89ff). Auch die Welt der Putten akzeptiert das „ungeniert öffentliche Urinieren“ (Hans Körner: „»Wie die Alten sungen …«; Anmerkung zur Geschichte des Putto“, in: Roland Kanz (Hg.): Das Komische in der Kunst. Köln 2007, S. 73). Der wasserlassende Kindliche Amor steht in Verbindung mit dem Gedanken des Spenders reinen Wassers und damit als Lebensquell mit dem Reich der Flora (Weber-Woelk 1995, S. 89, 90). Doch die schiere Größe der Figuren lässt jegliche Zusammenhänge zerbrechen. Zugleich liefern die stehende Gestalt und ihre Körperhaltung, welche auch an den Manneken Pis angelehnt sind, wichtige Hinweise. Dieselbe Körperhaltung findet sich auch bei urinierenden Herkulesdarstellungen wieder. Der Hercules Mingens im Musée Cantonal in Lausanne zeigt eine gleichfalls, wenngleich nur leicht, zurücklehnende Haltung (Annalis Leibundgut: Die Römischen Bronzen der Schweiz, Bd. 2; Avenches. Mainz 1976, S. 132f, Tafel 93).

Der Rückgriff auf eine visuelle Tradition ist bei Nicole Eisenman grundlegend. Im Vorwort zur Ausstellung Dear Nemesis, Nicole Eisenman 1993—2013 spricht Lisa Melandri das vielfältige Œuvre Eisenmans an, welches sich Einflüssen der Renaissance ebenso bedient, wie dem Sozialen Realismus und deutschen Expressionismus (Melandri, Julia: Foreword, in: Bryan-Wilson, Julia: Dear Nemesis, Nicole Eisenman 1993—2013, Ausst. Im Contemporary Art Museum St. Louis. Köln 2014, S. 23). Weiterhin bemerkt Kelly Shindler: „On the whole, Eisenman has shifted her locus of inspiration from the external world to personal experience as well as to humanity`s attempt to relate to one another. How might we connect, say, her allusions to classical myth, early lewd drawings, and recent body of work sculpting fraternity brothers` heads in plaster“ (Shindler, Kelly: Exploding Eisenman, in: Bryan-Wilson, Julia: Dear Nemesis, Nicole Eisenman 1993—2013, Ausst. Im Contemporary Art Museum St. Louis. Köln 2014, S. 31).
Die in dieser Ausstellung präsentierten Kopfplastiken besitzen besitzen eine vergleichbare Formensprache und sind aus dem selben Material geschaffen, wie die Figuren der „Brunnenskizze“. Die Reihe Sleeping Frat Guy von 2013 besteht büstenartigen Darstellungen aufrechter, geknickter oder liegender Köpfe. Ihnen sind Halsbänder aus Leder mit keramischen Anhängen beigegeben. Die Titel verweisen in ihrer anonymisierten Ansprache auf Traditionen vor allem us-amerikanischer Universitäten. Das Urban Dictionary bezeichnet in seinem Eintrag den Frat Guy u.a. als „a guy who thinks he’s better then everyone. when he’s drunk he tries to hide it and show off that alcohol doesn’t affect him, and then end up throwing up on the bar“ (http://www.urbandictionary.com/define.php?term=frat%20guy).

Bereits an dieser Stelle wird die in der Brunnenskizze ausgeführte Formensprache mit Trunkenheit in Verbindung gebracht. Vor allem die mediale Vermittlung eines ausschweifenden Verbindungsleben liefert die Basis dieses symbolischen Kurzschlusses.

Das Bild von in der Öffentlichkeit urinierenden Menschen (i.d.R. Männern) ist nicht erst in der Moderne ein alltägliches Phänomen. Es entspringt, abseits eines religiös-kultischen Kontextes, der niederländischen Genremalerei (Wilfried Seipel: Bernardo Bellotto genannt Canaletto: europäische Veduten: eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien, 16. März bis 19. Juni 2005. Wien 2005, S. 98). Als Motiv erscheint der urinierende Mensch, ob Erwachsener oder Kind, in verschiedenen ästhetischen und symbolischen Kontexten bereits seit der Antike.

Die Arbeit vermittelt Normalität. Sie setzt den anonym Trunkenen ein Denkmal und schafft zugleich eine Spaltung der Gesellschaft. Ein Schisma tut sich auf zwischen jenen, die das dargestellte Verhalten als ihnen zueigen erkennen und jenen, die es aus einem z.B. bürgerlichen Verständnis ablehnen. Doch mehr noch: Die Trunkenen bilden eine eigene soziale Gruppe und grenzen sich in ihrem Rausch vom Rest der Gesellschaft ab. Diese temporäre Erlebnisgemeinschaft löst sich auf, sobald sich der Zustand der Nüchternheit einstellt. Und eben an dieser Übergangszone ist das Kunstwerk verortet. Die Gruppe besteht noch, die Reste der Feierlichkeiten sind noch erkennbar und doch ist das Ende der Gemeinschaft erkennbar.

Hierdurch repräsentieren sich im Kunstwerk und offenbaren sich durch das Kunstwerk die sowieso gesellschaftlich vorhandenen Mechanismen. Und doch verbleibt das Kunstwerk im Vagen. Reduzierte Formensprache und der Verzicht auf jegliche Eindeutigkeit wirken gefällig. Niemand soll sich angegriffen fühlen: weder die Apolloniden/Apollonier, noch die Bakchanten. Die kindlich-naive wulstige Formensprache unterstützt das Unaufdringliche. Selbst im Titel drückt sich die Unverbindlichkeit aus: „Skizze eines Brunnens“. Der Ausdruck vermittelt etwas Unabgeschlossenes, einen noch zu realisierenden Vorschlag. Es erweckt den Eindruck, die Künstlerin möchte sich nicht festlegen, oder reichte etwas in kurzer Zeit geschaffenes als Endprodukt ein.

Eine Skizze ist die Niederschrift einer Idee und zumeist in kleinerem Maßstab gegenüber der eigentlichen Ausführung. Die Monumentalität der realisierten Arbeit übersteigt bereits das menschliche Maß und würde in einer – hypothetischen – Umsetzung der Skizze noch weiter gesteigert.

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