armer Goethe

Da surft man nichts ahnend durch Youtube und stößt auf ein kleines Video von unserem allseits beliebten Prof. Dr. Harald Lesch (Terra X / Lesch & Co.: Ist die Erde wirklich flach?), seines Zeichens ultimativer Wissenserklärer der Nation. Hier wirkt er ein wenig wie der Neil Degrasse Tyson Deutschlands… oder so ähnlich.

Das eigentliche Thema des Clips ist minder interessant, da er sich um eines der zahlreichen kruden Ideen dreht, die noch immer im Netz herumgeistern. Doch etwa in der Mitte seiner Ausführungen ließ mich Hr. Lesch aufhorchen. Hatte er tatsächlich gerade Goethe erwähnt und im selben Atemzug gelobt und degradiert? Famos!

„(…) um jemanden zu zitieren, den ich sonst sehr schätze, Goethe, Johann Wolfgang von, der hat in einem Spaziergang mit Eckermann, 1826, Februar 1826, noch zum Eckermann gesagt: »Eckermann, wenn wir uns hier hinsetzen würden und würden uns anschauen, wie sich alles um uns herum dreht, dann kommt man doch nicht auf den Gedanken, dass sich die Erde um die Sonne dreht, sondern es dreht sich doch alles um uns«, 1826!“ (ab 4:04)

Es mutet recht eigenwillig an, Goethe in einem solchen rückwärtsgerichteten Denken verhaftet zu wähnen. Vor allem im Spätwerk, wo sich Goethe dezidiert nochmals mit naturwissenschaftlichen Phänomenen, der Farbenlehre, aus einer phänomenologischen Perspektive befasste.

Allerdings ergibt eine kurze Suche tatsächlich eine Literaturstelle, die über die Bücherbibliothek einer großen, nichteuropäischen Datenbank einsehbar ist.

„Noch 1828 hat Goethe zu Eckermann gesagt: »Das geozentrische Weltbild, mein lieber Eckermann, das ist doch das Natürlichste der Welt. Man steht hier auf dem Erdboden, und schaut sich an, wie alles um einen herum dreht.«“

Das Kuriose hieran ist nicht das um zwei Jahre veränderte Datum, sondern, dass es sich um ein 2010 erschienenes Buch von Hrn. Lesch handelt: Der Außerirdische ist auch nur ein Mensch: Unerhört wissenschaftliche Erklärungen. Albrecht Knaus Verlag, o.S.

So dünkt es einem, angesichts der spärlichen Suchmaschinentreffer, dass nichts weiter vorhanden ist, zu diesem Thema. Doch Hoffnung ist nah. Egal, was man zu Goethe sagt oder schreibt, dieser hat selbst so viel geschrieben und es wurde so viel über ihn geschrieben, es füllt ganze Regale. Nebst Goethes Tagebuchaufzeichnungen und umfangreich erhaltenen Korrespondenzen existieren für seine letzten Lebensjahre die Aufzeichnungen Eckermanns, welcher als jung-naiver Eleve, dem betagten, hochgebildeten Goethe mit kritischen Fragen löcherte. In diesem Tenor wird es zumindest hier und da formuliert. Blickt man genauer hin, ändert sich dies zu einem ernsthaften Austausch zweier freier Geister. Anders hätte ein Goethe auch einen Eckermann nicht so viele Jahre ausgehalten.

Doch weder die Tagebücher, noch Eckermanns Schriften geben für die Jahre 1826 bis 1828 entsprechende Inhalte wieder. Auch sonst scheint die Lage zu diesen Zeilen zwischen Goethe und Eckermann eher dürftig. Nichtsdestotrotz betrieb Goethe eine regelrechte Wissenschaftskritik, in denen er sich mithin zu heute eigenwilligen Vergleichen hinreißen ließ. Vor allem widerstrebte ihm der Universalanspruch der von ihm als „Mathematik“ umrissenen Disziplinen.

„»Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist, allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existirte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt! Es wäre doch thöricht, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch beweisen kann! Ihre Mitgift kann sie ihm mathematisch beweisen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch die Mathematiker nicht die Metamorphose der Pflanze erfunden! Ich habe dieses ohne die Mathematik vollbracht, und die Mathematiker haben es müssen gelten lassen. Um die Phänomene der Farbenlehre zu begreifen, gehört weiter nichts als ein reines Anschauen und ein gesunder Kopf; allein beides ist freilich seltener als man glauben sollte.«“ (Goethe am 20. Dez. 1826 zu Eckermann; Goethes Gespräche Bd. 5. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, S. 329.)

Mitnichten spricht hieraus und aus den zahlreichen Beschäftigungen mit mystischen (theologischen) Themen eine Ablehnung des seit Kopernikus begründeten und ehedem immer stärker geläufigen heliozentrischen Weltbildes.

„Für den Goethe um 1798 und die Naturphilosophen um 1800 war das heliozentrische Weltbild bereits eine Selbstverständlichkeit, wie man es auch immer im einzelnen philosophisch explizierte.“ (Müller, Joachim (1984): „Weltseele“; Eine lyrisch-philosophische Triade Goethes. Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse Bd. 70, Heft 3. Berlin: Akademie-Verlag, S. 50)

Man kann eine ganze Reihe von Zitaten aufführen, in denen Goethe über Natur, Wissenschaft und Religion spricht. Doch keines dieser Zitate kommt ohne einen erläuternden Kontext aus. Selbst wenn man das Zitat weit wählt, fließen in die Aussagen und situativen Gespräche stets Gedanken der Zeit um 1800 ein. So mag ein Mensch dieser Zeit die Welt aus dem Blickwinkel der Romantik betrachten. Sie sehen in Orten Schönheit, einen Geist (oder Gott) und doch vermag man den Geist, die Schönheit am und im Ort nicht messen, denn Geist, Gott und Schönheit sind im Menschen, wo sie wiederum messbar werden. Auch die Wechselbeziehungen zwischen Ort und Schönheit können natur- wie geisteswissenschaftlich ergründet werden.

„Vor Tische bei einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee begegnet mir Goethe, welcher halten läßt und mich in seinen Wagen nimmt. Wir fahren eine gute Strecke hinaus bis auf die Höhe neben das Tannenhölzchen und reden über naturhistorische Dinge.
Die Hügel und Berge waren mit Schnee bedeckt, und ich erwähne die große Zartheit des Gelben, und daß in der Entfernung von einigen Meilen, mittels zwischenliegender Trübe, ein Dunkles eher blau erscheine als ein Weißes gelb. Goethe stimmt mir zu, und wir sprechen sodann von der hohen Bedeutung der Urphänomene, hinter welchen man unmittelbar die Gottheit zu gewahren glaube. »Ich frage nicht,« sagte Goethe, »ob dieses höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon so viel, daß er Theile des Höchsten erkennen mag.«
Bei Tische kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwähnung, die, um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts gehen wollen. »Dieses ist ein großer Irrthum,« sagte Goethe. »In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Complicirteste. Man sieht also, daß beide Welten ganz verschiedene Tendenzen haben, und daß von der einen zur andern keineswegs ein stufenartiges Fortschreiten stattfindet.«“ (Goethe am 23. Feb. 1831 zu Eckermann; Goethes Gespräche Bd. 8. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, S. 34f.)

Die Nähe zu Platon ist offenkundig. Goethe befasste in seinen Werken mit wissenschaftlichen und magischen Themen gleichermaßen. So schreibt er seinem Dr. Faust eine Haltung zum geozentrischen Weltbild zu, dem jedoch durch Goethe einen „modernen, auf Erkenntnis drängenden Forschergeist“ (aus der Festrede von Ministerpräsident Reiner Haseloff anlässlich des 500. Geburtstages von Georg Joachim Rheticus am 24. Oktober 2014 in Wittenberg) andichtete. Im Prolog zu Goethes Faust wird der Rahmen der Handlung in einer Welt der Sphärenharmonie festgesteckt:

„Die Sonne tönt in alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschrieben Reise
Vollendet sie mit Donnergang.“
(Goethe: Faust, Der Tragödie erster Teil, Vers 243ff)

Hieraus jedoch eine Haltung abzuleiten erscheint unmöglich und führt am eigentlichen Problem – oder Gegenstand vorbei. Goethe bewahrte sich eine poetisch-philosophische Sicht auf die Welt, was möglicherweise für sein distanziertes Verhältnis zur Mathematik mitverantwortlich ist.

„Goethe sprach darauf sehr viel über das Steigen und Fallen des Barometers, welches er die »Wasserbejahung« und »Wasserverneinung« nannte. Er sprach über das Ein- und Ausathmen der Erde nach ewigen Gesetzen, über eine mögliche Sündfluth bei fortwährender Wasserbejahung. Ferner: daß jeder Ort seine eigene Atmosphäre habe, daß jedoch in den Barometerständen von Europa eine große Gleichheit stattfinde. Die Natur sei incommensurabel, und bei den großen Irregularitäten sei es sehr schwer, das Gesetzliche zu finden.“ (Eckermann über ein Gespräch mit Goethe am 22. Mrz. 1825; Goethes Gespräche Bd. 5. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, S. 51f.)

Es stellt sich nun die Frage, warum Harald Lesch genau zur Halbzeit seiner Ausführungen am Thema vorbeioszilliert und auf Goethe zu sprechen kommt? Zunächst fällt auf, dass er ein Zitat verwendet und diesem einen konkreten Rahmen gibt, der sich einer Quellenangabe nähert, doch bei genauer Betrachtung wertlos ist. Es wirkt mehr wie eine anekdotenhafte Geschichte mit parabelhaften Zügen, denn eine inhaltlich notwendige und präzise betrachtete Zitation.

Es ist offensichtlich, dass Goethe als Beispiel eines großen Geistes herhalten musste, der auch mal falsch lag. Man mag sich fragen, warum nicht ein (Natur-)Wissenschaftler jüngerer Zeit als Beispiel genommen wurde. Zum einen kann dies an der Bekanntheit Goethes liegen. Jeder hat von diesem mal gehört und verbindet Faust und Farbenlehre mit diesem. Vielleicht einer der letzten Universalgelehrten. Zeitgenössische Naturwissenschaftler mag der geneigte Zuschauer wenige kennen. Und so gesellte sich zum Irrtumsbeispiel Goethe noch die Deklassierung alles Nicht-Naturwissenschaftlichen als Kollateralschaden.

Man mag nun den Herren Lesch und Tyson vorhalten, sie versuchen bewusst mit aus ihrem Kontext gerissenen Zitaten die Naturwissenschaften als die ultimativen Wissenschaften darstellen. Doch dies trifft nicht so recht den Punkt. Quellenkritische Arbeit ist vor allem Teil aller historisch ausgerichteten Disziplinen, wo das einzelne Zitat nur erlaubt ist, wenn es in seiner verkürzten Form exakt den Inhalt wiedergibt, den es in seinem ursprünglichen Zusammenhang hat. Aber auch ein „sie wissen es nicht besser“ hilft hier allein nicht weiter. Hinzu tritt, dass medial sowohl durch Naturwissenschaftler wie auch im Populärbereich stets ein Bild der „harten“ Wissenschaften geprägt wird. Ganz ungeachtet der Tatsache, dass auch komplexe mathematische Berechnungen oder präzise Messungen nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Es steht immer ein Mensch an der Maschine, der Daten interpretiert. Dieser Übersetzungsvorgang ist bei näherer Betrachtung ganz ähnlich dem der Geisteswissenschaften (obwohl die klare Trennung beider Felder dieser Tage nicht mehr haltbar ist). Ob Aussagen über die Welt auf Basis von Zahlenkolonnen oder sprachlichen Beschreibungen von Phänomenen basieren ist schlicht egal. Der Mensch muss klar benennen können, welche Reichweite diese Aussagen hinsichtlich einer Theoriebildung haben.

Die Hörigkeit, welcher Maschinen und Zahlen zugeeignet wird, ist erschreckend, denn sie blenden das aus, was diese Maschinen und Zahlen letztlich hervorgebracht hat: der Menschliche Verstand, stehend auf den Schultern von Giganten (oder besser: einem gigantischen Turm aus anderen Menschen).

Abschließend möchte man Lesch tatsächlich eine absichtliche Lüge unterstellen, liest man eine durch Eckermann überlieferte Aussage Goethes:

„»Das Schwierige bei der Natur« – sagte Goethe – »ist: das Gesetz auch da zu sehen, wo es sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irre machen zu lassen, die unsern Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch wahr. Daß die Sonne stillstehe, daß sie nicht auf- und untergehe, sondern daß die Erde sich täglich in undenkbarer Geschwindigkeit herumwälze, widerspricht den Sinnen so stark wie etwas, aber doch zweifelt kein Unterrichteter, daß es so sei. Und so kommen auch widersprechende Erscheinungen im Pflanzenreiche vor, wobei man sehr auf seiner Hut sein muß, sich dadurch nicht auf falsche Wege leiten zu lassen.«“ (Goethe am 24. Feb. 1831 zu Eckermann; Goethes Gespräche Bd. 8. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, S. 34f.)

Man kann hier eine späte Abkehr Goethes von vorhergehenden Positionen oder eine Fälschung durch Eckermann annehmen, doch ist dies angesichts der Literatur eher unwahrscheinlich.

Zudem stehen die durch Lesch erwähnte angebliche Aussage und das tatsächliche Zitat Goethes nicht allzu weit auseinander. Beide haben die Irrungen menschlicher Sinne im Kontrast zur tatsächlichen Mechanik der Natur zum Thema. Doch Goethe lag nicht falsch, er wurde durch Lesch nur falsch zitiert und durch den Einwurf „den ich sonst sehr schätze“ mit heutigen Anhängern einer flachen Erde (etc.) in Verbindung gebracht. Schlimmer wird es nur Sekunden später, als Lesch das Zitat Goethes tatsächlich interpretiert und ihm unterstellt, er würde das geozentrische Weltbild bevorzugen: „Also wenn schon so jemand auf den Gedanken kommt, dass mit dem geozentrischen Weltbild es viel besser wäre, als mit dem heliozentrischen (…).“ Im Kontext des Videos macht der Einwurf zu Goethe und den täuschenden Sinnen durchaus Sinn. Redete Lesch doch zuvor von den Griechen und den Erscheinungen der Natur und den daraus resultierenden Konsequenzen für das Weltbild. Die Kritik Goethes an der Mathematik sind durchaus symptomatisch für eine Zeit, in der sich die mathematisch ausgerichteten Wissenschaften immer stärker gegenüber eines phänomenologischen Naturstudiums durchsetzten. Das wohlgeordnete Weltbild zerbricht in immer kompliziertere Kompartimente, die heutigen akademischen Disziplinen beginnen sich herauszukristallisieren, und sie strecken ihre Inhalte, Methoden und Theorien, sowie ihre Reichweite (Aussagekraft) ab. Und tatsächlich wird in der Forschung davon geschrieben Goethes Weltbild „‚wurzelt noch in der christlichen Tradition, die sein Weltbild als Wunschbild noch immer trägt‘ (Schmidt 1990, ebd. 413). Er habe sich, wie Hölderlin und Schiller, ‚von der Bindung an christlich geprägte Bilder nicht befreien können‘ (Grenzmann, in Boiler 1957, 19).“ (Weber, Albrecht (2005): Goethes „Faust“ – Noch und wieder?; Phänomene – Probleme – Perspektiven. Würzburg : Königshausen & Neumann, S. 62)

Leschs Video hat nicht Goethes Weltbild zum Thema und doch empfand er es als notwendig, ihn zu erwähnen. Dabei fälschte und verkürzte er Zitate und Inhalte und steckte Goethe in eine Box, die ihm nicht entsprach. Dabei wäre es so einfach gewesen, Goethe schlicht auszulassen.

Dieses Beispiel zeigt aber auch – so scheint es im Extrem, wie egal Menschen wie Lesch und Degrasse Tyson die Geisteswissenschaften sind und wie sie sich derer bedienen, um selbst besser dazustehen; zumindest aber müssen sie sich Nachlässigkeit und unwissenschaftliches Arbeiten vorhalten lassen.

Das Kuriose hieran ist für mich, so möchte ich abschließend erwähnen, dass Goethes faszinierter Blick auf die Harmonie und Ästhetik der Natur ganz entschiedenen Einfluss auch auf die Entwicklung der modernen Physik hatte. Werner Heisenberg hielt, als umfassend gebildeter Mensch die Gedanken Goethes besonders hoch und leitete für sich ganz eigene Sehnsüchte für ein tieferes Verständnis der Natur aus den Schriften Goethes ab; und dies als Mathematiker.

youtube: gyal9T_fQ-8

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