Da gibt es seit etwa 60 Jahren Bemühungen einer transnationalen Annäherung zur Europäischen Union, welche Gedanken aufgreifen, die in Teilen bis in die Antike zurückreichen, aber vor allem der Aufklärung entstammen, und dennoch wird beständig medial und kulturell auf die Differenz entlang künstlich gezogener Nationalgrenzen hingewiesen. Wie kann in Zeiten eines, durch globale Vernetzung hervorgerufenen Zusammenrückens der Welt, noch glaubhaft ein Ideal der »einen Menschheit« vermittelt werden, wenn durch Milliardenbeträge eine Institution gefördert wird, die nichts anderes zum Ziel hat, als nationale Zurschaustellung und (medialer) Wettkampf zwischen Ländern? Ist dies nicht gerade auch die Faulstelle an einem entsprechenden Ideal friedlichen olympischen Wettstreits?
Olympia ist Teil eines sich selbst erhaltenden Systems, das offenbart, wie eng Nationalstaatlichkeit an den Sport, die Medien und den Kapitalismus gebunden ist. Bereits in den 1970er Jahren wurde die enge Verknüpfung von Sport und Politik beobachtet und beschrieben (dazu z.B. Helmut Digel: „Sport als Interessenobjekt nationalstaatlicher Politik“ in: Digel, H. (Hrsg.) (1988). Sport im Verein und im Verband. Historische, politische und soziologische Aspekte. Schorndorf: Verlag Karl Hofmann, S. 138-157).Wäre es nicht wunderbar, wenn Olympia ein Hort friedlichen Wettstreits sein könnte, losgelöst von jeglicher Nationalstaatlichkeit? Die Antwort auf die Frage, warum man noch immer Differenz, statt Einheit fördert, ist, dass kaum jemand an den olympischen Spielen als Zuschauer teilhaben würde, wenn es nur noch um Individuen ginge. Die Masse an Einzelsportlern übersteigt die Möglichkeiten des Überblicks und, um dieser Herr zu werden, verarbeitet man sie zu »mundgerechten Häppchen«. In der Soziologie findet sich eine vergleichbare Reduktion; historische Ereignisse werden im kollektiven Gedächtnis auf das Erinnern von symbolischen Einzelpersonen konzentriert. Das Vergessen wird zu einer wichtigen Kategorie kollektiver Erinnerung und damit gesellschaftlicher Identität.
Der Medaillenspiegel befördert eine Identitätskonstruktion entlang von Nationalgrenzen. Und er ist allgegenwärtig: gibt man »Olympia« in die Google-Suche ein, liefert diese, gleich als zweiten Eintrag in der rechten Spalte, eben jenen trennenden Faktor als nüchterne Information. Andere große Suchmaschinen, wie Bing und Altavista sind da auch nicht besser. Es sind aber oftmals die kleinen Formulierungen, welche die eigentlichen Ideologien verschleiern. Wird beständig von »Wir« und »Denen« gesprochen, so ist es für den einzelnen Menschen umso schwieriger aus den indoktrinierten Denkstrukturen auszubrechen.Bei all diesen Gedanken frage ich mich selbst, wie ich mir die Olympischen Spiele überhaupt noch ansehen kann, wenn ich bereits Probleme damit habe, mich ungehindert als »Deutscher« zu bezeichnen? Mehr als dies bin ich Mensch; vielleicht noch Europäer, doch selbst die Politiker haben den Glauben hieran verloren (Jürgen Habermas: „Wir brauchen Europa! Die neue Hartleibigkeit: Ist uns die gemeinsame Zukunft schon gleichgültig geworden?“. In: Die Zeit, 20.05.2010, Nr. 21).Kommentare? Kritik? Gedanken? Gegen-Gedanken? Widerlegungen?