Fortsetzung des Beitrags Stühle.
Das Spektrum künstlerischer Stuhlformen spiegelt sich in Teilen in Anatols (Karl-Heinz Herzfeld) zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Sitzen, dem Stuhl und dessen kunst- und kulturgeschichtlichen Wurzeln wider.[1] Bereits innerhalb seines Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf bei Joseph Beuys in den 1960er Jahren entstanden erste Arbeiten, die den Stuhl und das Sitzen thematisierten. Aus zunächst skulpturalen Werken, wie dem Beuys-Stuhl[2] mit formalen Ähnlichkeiten zu altägyptischen Pharaonen- oder Götterplastiken[3] und zu einer jüngst entdeckten Odindarstellung[4] sowie die Gebärende[5], welche entfernt einer vorgeschichtlichen Figurine aus dem türkischen Raum gleicht, die eine gebärende Göttin zeigt, entwickelte sich 1969 der Königsstuhl[6], ein benutzbarer Gegenstand, der in seiner strengen Formgestaltung prototypisch für einen Großteil des späteren Schaffens von Anatol sein sollte und der sich heute als vermeintlich nutzbare Sitzplastik im Park des Museum Abteiberg in Mönchengladbach befindet.[7]
Durch diese vier Objekte reiht sich Anatol nicht nur kunsthistorisch in eine Tradition ein, sondern übersetzt das Sitzen und das Hocken in eine zeitgemäße künstlerische Form, welche, durch die Wahl der Materialien und den spezifischen Kontext der Produktion, eine jenseits eines bloßen kulturgeschichtlichen Kontextes liegende Bedeutung erlangt.
Beuys‘ Stuhl – Beuys-Stuhl
Für den Beuys-Stuhl fertigte Anatol eine Kernform aus Blei an, die er anschließend mit einer dünnen Goldschicht überzog. Damit konkurriert innerhalb der Skulptur der »unreine« und matte Werkstoff Blei mit dem »edlen« und leuchtenden Material Gold.[8] Diese Dichotomie referenziert nicht nur den Wunsch einer alchimistischen Verwandlung von Blei in Gold.[9] Beide Materialien stehen zugleich als Zitat und Metapher in Verbindung mit Joseph Beuys und dessen künstlerischer Theorie, welche eine „anthropologisch und gesellschaftlich orientierte Forderung nach Verwandlung“ darstellte, die als „»Metamorphose« (…) mit dem christlichen (und alchimistischen) Grundgedanken der Transsubstantiation verbunden“[10] ist. In seiner Form nimmt der Beuys-Stuhl auf die Person Beuys und seine »ikonische Gestalt« Bezug.[11] Zwar fehlt der Arbeit Anatols mit dem Beuys-Hut die prägnanteste ikonische Form[12], wohl aber scheint in der Figur eine für Beuys typische Weste angedeutet. Dennoch lässt auch dies nur bedingt eine Form der »ikonographischen« Entschlüsselung zu. Aufgrund ihrer spezifischen Modellierung entzieht sich die Figur einer Identifizierung. Beine und Füße sind zu einem zweifach im Rechten Winkel abknickenden flachen Schlauch reduziert. Der Torso verschmilzt mit einer angedeuteten und kantig ausgeführten Weste, und die links und rechts applizierten, lotrecht herabhängenden Arme mit ihren unförmigen Händen weisen die gleiche Form der Modellierung auf. Der Kopf ist ein mit seiner flachen Seite nach vorne gekippter ovaler Zylinder, aus welchem die für Beuys charakteristischen Hohlwangen herausgeschnitten wurden und der am oberen Ende eine nach unten kantig abschließende Wulst aufweist, die die Stirn markiert. Jegliche für ein Porträt notwendige Differenzierungen des Kopfes fehlen; weder Augen, noch Nase und Mund sind erkennbar.
Ungleich wirkmächtiger hierzu zeigt sich der Schriftzug »Beuys«, welcher über dem Kopf der sitzenden Gestalt auf der Rückenlehne prangt und den Stuhl und Sitzenden wortwörtlich bezeichnet.[13] Bei genauer Betrachtung wird augenscheinlich, dass die geordneten Vertiefungen zusammen mit Stuhl und Figur in einer Form gegossen und nicht nachträglich eingeritzt oder gepunzt wurden. Stuhl (mit Figur) und (vermeintliche) Schrift bilden eine untrennbare Einheit, was der ganzheitliche Überzug mit Gold verdeutlicht. Die so als Grenze geschaffene »Haut« umfasst die gesamte Plastik. Damit wird durch künstlerische Intervention die Dichotomie von Bild und Schrift als gegensätzliche Medien – z.B. des Gedächtnisses oder der Erinnerung[14] – aufgehoben, und der Beuys-Stuhl rückt in die Nähe von Monumenten (Denkmälern), beziehungsweise Erinnerungszeichen.[15] Der in Majuskeln gesetzte Name artikuliert dabei in gewisser Hinsicht den notwendigen Ewigkeitsanspruch.[16] Nur knapp umschifft Anatol mit dieser Gestaltung die von Felix Reuß anhand des Heine-Denkmals von Ulrich Rückriem aufgeworfene Frage nach der „Sprachfähigkeit“ von nichtfigürlichen Denkmalen.[17] Rückriem macht sich kein Bild von Heine und ordnet die Denkmalsform seiner künstlerischen Ausdrucksform unter. Anatol greift eine ikonische Form auf und arbeitet diese in seiner eigenen künstlerischen Sprache zu einer individuellen Aussage um.
Die Erkennbarkeit dieser Zeichenfolge als geschriebene Sprache ist für den, in seiner Schriftform lateinisch geprägten Sprachraum trivial. Durch die Buchstaben wird die Schrift Bestandteil des Bildwerks. Unter der Prämisse, die Eintiefungen sind tatsächlich zu einem Namen verbundene Zeichen, eröffnet dies das Problem der Zuordnung von Eigenname zu Person. Es handelt sich bei der bezeichneten Person weder um den Autor (Signatur), noch um den Eigentümer (Namensgraffito) der Sitzstatue, dies deutet ihre dominante Position, sowie die Einheit von Schrift und Bildwerk im Herstellungsprozess an. Der Name muss folglich im Sinne einer Inschrift als der Eigenname der in der Bildnisfigur angesprochenen Person gesehen werden, oder die (beschwörende) Anrufung eines »außerbildlichen« Akteurs. Im Alltagsdenken wird durch den Namen die Identität einer Person sprachlich verdeutlicht.[18]
Mittels seiner spezifischen Form verweist die Plastik auf altägyptische Sitzfiguren und eröffnet eine mythisch-religiöse Bedeutungsebene, die dem Namenszug magische Eigenschaften zuweist. Es ist die gerade, unbewegte Körperhaltung in Kombination mit der hohen Rückenlehne, welche ägyptische Sitzfigurinen von frühen griechischen Arbeiten unterscheidet. Im Band zu den »Griechen und ihren Nachbarn« der Propyläen Kunstgeschichte bringt Karl Schefold die mystische Bedeutung ägyptischer Formensprache auf den Punkt, welche sich unter anderem im „(…) Rückenpfeiler [offenbart], der viele ägyptische Statuen an ein überindividuelles Sein bindet. Die Standbilder des Alten Reichs verkörpern die unsterbliche Form in jener ägyptischen Auffassung vom Lebendigen, die ihre Bilder gerne von der Pflanze nimmt, weil sie dem kristallinen Sein näher ist.“[19] Dorothea Arnold betont zudem die tektonische Komponente der Rückenpfeiler; Figur und architektonischer Kontext bilden eine Einheit.[20] Im weitesten Sinne entspräche dies der Deutung K. Schefolds, bei dem die Nähe zu H. Eickhoffs Auffassung des Stuhls als einer Verbindung zwischen Erde und Himmel (Kosmos) deutlich wird.
Der Namenszug ist für die Bedeutungsaufladung der Sitzskulptur und ihrer Genese zum Beuys-Stuhl wichtig. Durch die Schrift, als materieller Manifestation von Sprache, spricht das Bildwerk zum Betrachter. Es kennt nur einen Begriff – »Beuys« –, der in stakkatohafter Dauerbeschallung den Betrachter unerbittlich mit einer überzeitlichen Präsenz konfrontiert, die mehr ist, als die Weitergabe von Information; es erfolgt geradezu eine okkulte Beschwörung.[21]
Somit ist die Figurine nicht alleine eine Anlehnung an altägyptische Skulpturen, sondern transportiert deren Ideen und Ideale durch die Zeiten in die Gegenwart. Im Beuys-Stuhl offenbaren sich drei Ebenen: In der formalen Gestaltung altägyptische Herrschaftszeichen und ihre Vorstellungen von Ordnung und Gesetz, im Material tauchen Gedanken der Plastischen Theorie Joseph Beuys auf und die Identifikation von Form und Figur mit dem Namen »Beuys« verweist (indirekt) auf die reale Person und die Schrift drückt zugleich einen Ewigkeitsanspruch aus. An die Referenzfunktion des Namens knüpft ein Gedanke an, der in Fotografie und Medienkunst auftaucht und in diesem Zusammenhang erhellend wirken kann. Ist der Name ein unmittelbarer Verweis auf die Person Beuys, schließt das dann, analog zur „kausal vermittelten Beziehung zwischen Abbild und Abgebildetem“[22] in Fotografie und Medienkunst, den Künstler und Menschen Beuys gleichsam als Präsenz in das Kunstwerk ein. Damit stünde die Arbeit in doppelter Hinsicht mit einer Memorialfunktion in Verbindung.[23]
Indem Anatol Beuys eine gottgleiche Aura verleiht, welche wiederum den Beginn von Ordnung bedeutet, wird den Lehren Beuys‘ der gleiche Anspruch verliehen: Sie sind kulturelle Ordnung in einem »natürlichen« Chaos unserer heutigen Gesellschaft.
Die Idee, dass mit dem Beuys-Stuhl, entsprechend den Ausführungen zur Gedächtnisfunktion und zum Erinnerungszeichen, ein Monument oder das Modell eines Monumentes durch Anatol geschaffen wurde, welches Beuys als Menschen, als Künstler und Lehrer überhöht, ließe sich anhand der Literatur sicherlich verifizieren.[24] Allerdings greift eine solche Interpretation für Anatol zu kurz. Viel eher muss man in der Skulptur ein Amalgam aller Beschäftigungen Anatols mit der Person und den Lehren Beuys sowie deren kulturgeschichtlichen Implikationen sehen.
Überspitzt man die »Beuyszentrische« Sicht auf und in Anatols Beuys-Stuhl, dann vermag man hierin eine Reflektion auf die im Jahr zuvor von Beuys in der Galerie Schmela aufgeführten Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt sehen.[25] Sowohl in der Aktion, wie auch in der Figurine tauchen Elemente auf, die eine Verbindung von Himmel und Erde, von Jenseits und Diesseits ausdrücken. Der sitzenden Beuys, wie auch die Sitzfigurine drücken in ihrer Körperhaltung eine Verbindung von Kosmos und Erde aus. Insofern ließe sich innerhalb der Beuys’schen Aktion auch keine Unterscheidung zwischen dem sitzenden Beuys und dem Handelnden vollziehen, welcher dem „toten Hasen die Bilder erklärt“.[26] Auch in der Verwendung des Goldes als Hülle nähern sich Aktion und Plastik einander an. Diese Hülle ließe sich auch als Maske[27] oder Haut oder gar als »Zwischenstoff« sehen, welche eine Verbindung von Innen und Außen herstellt und zugleich eine undurchlässige Membran zwischen materieller oder immaterieller Wesenheit darstellt.[28] Wie Beuys in der Aktion durch das Gold zur nichtmenschlichen Skulptur wird,[29] sich selbst zu einem visuellen Speicher seiner Lehren macht und damit der Wirklichkeit entrückte, so verschmilzt auch in Anatols Beuys-Stuhl das Gold als Außenhaut und Oberfläche mit der Form (Person Beuys) des Bleikerns. Die zeitliche Transmutation von Blei in Gold, also die Überführung eines unedlen in einen edlen Stoff – oder um bei Beuys zu bleiben, die Veränderung der Gesellschaft durch das Denken und Handeln – wird dabei durch Anatol in eine räumliche Disposition übersetzt: der bleierne Kern der Statue ist mit einer Goldschicht umhüllt. Außen ist, einer Oxidationsschicht gleich, sinnlich nur das Resultat zu erkennen, sei es der sprachlich formulierte Gedanke oder die Gesellschaft verändernde Handlung. Dieser Vergleich wäre kein Abbild, keine Darstellung oder Illustration der Aktion, sondern selbst ihr, wenn auch abbildhaftes, abstraktes »Bild«. Der Beuys-Stuhl fungiert gewissermaßen als Repräsentation, die mit Referenzen aufwartet, welche einer Entschlüsselung durch den Betrachter harren und der Name »Beuys« nimmt die Funktion des Ankers ein, von dem jegliche Analyse ausgehen muss.[30]
Das Sitzen wird von Anatol in der Plastik als ein herrschaftliches, monarchisches Sitzen umgesetzt. Dabei versteht er es jedoch nicht nur als ein weltliches Sitzen, sondern orientiert sich ebenso an christlichen Vorstellungen vom thronenden Christus. Auch das Mittelalter kennt sitzende und vergoldete Figuren. Ihre Darstellungen beinhalten stets ein gestisches Motiv der Hände: die aktiv segnenden Hände. Anatols Figurine drückt dagegen Passivität aus. Es sind keine segnenden oder vergleichbaren Gesten vorhanden, wie man sie von sitzenden Christus- oder Mariendarstellungen kennt. Der zur »Figur Beuys« erstarrte »Künstler Beuys«, welcher zugleich »Messias Beuys« und »König Beuys« ist, wird zur symbolischen Figur reduziert. Die Handlungsunfähigkeit der »Figur Beuys« entspricht der des monarchischen Herrschers. Im Vollzug des Sich-Setzens tritt die Person hinter der Funktion »König« zurück. Im selben Maße reduziert die sitzende Figur in sich die Person Beuys auf ein Minimum; er wird nicht als »Joseph Beuys« angesprochen, sondern im Sinne einer symbolischen und generalisierenden Bezeichnung als »Beuys« gekennzeichnet. In dieser Weise treten König und Beuys dem »Volk«[31] als symbolische Wesen gegenüber. Hierin wird deutlich inwiefern Beuys als Herrscher – im Sinne eines ordnungsstiftenden Königs – stilisiert und eine Herrschaft der Kunst propagiert wird.[32] Mit Mitteln der Kunst wird damit eine Debatte vorweggenommen, wie sie innerhalb der Beuys-Forschung und den Feuilletons bis heute geführt wird und jüngst, ausgelöst durch die Beuys-Biografie Hans-Peter Riegels, einen weiteren Höhepunkt erlebte.[33]
Wie es den Betrachter bedarf, die Inhalte des Beuys-Stuhls zu entschlüsseln, so verweist die Spiegelfläche des Goldes auf eben jenen Betrachter, der selbst Herrscher über seine eigene Erlösung ist. Es ist nicht Beuys der ausstrahlt und damit in messianischer Weise inszeniert wird, sondern seine Repräsentation (künstlerisch-magische Präsenz) wirft nur das zurück, was um ihn herum existiert; immerhin handelt es sich bei dem Beuys-Stuhl »lediglich« um ein Artefakt, ein Objekt ohne spezifischen Nutzen. Nur Schriftzug und ikonische Gestalt zeugen von seinen Wurzeln. Dieses Artefakt wirkt wie ein Objekt einer (fiktiven) kulturgeschichtlichen, anthropologischen oder ethnologischen Sammlung. Anatol bedient sich für zahlreiche seiner Arbeiten existierenden visuellen Strategien und setzt diese gezielt ein, um dem Betrachter eine vertraute Form zu präsentieren. Das Vertraute baut Schwellen ab.[34]
Es liegt an dem Betrachter sich die Ideen Beuys zur eigenen Erlösung zunutze zu machen; oder sie zwecks Erlösung abzulehnen. Damit verleugnet Anatol den Anspruch einer messianischen Haltung, welche Beuys zugeschrieben wurde und die er selbst, z.B. durch sein politisches Engagement bestätigte. Mit dieser, auf den realen Menschen, den Betrachter oder Besucher ausgerichteten Perspektive operiert Anatol fortan vollständig innerhalb seines Kunstschaffens. So ist es für ihn nur konsequent keine »Stuhlbilder« zu schaffen, sondern benutzbare »Thronobjekte« zu kreieren.[35]
Sie dürfen jedoch nicht als Vehikel einer (Selbst-)Repräsentation von Autorität missverstanden werden. Sie sind Werkzeuge einer Erfahrung von Selbsterlösung. Im Sinne eines „Jeder Mensch ein König“, wie es Anatol an den Stumpf eines verbrannten Baumstammes schrieb, sind die Thronobjekte Werkzeuge einer ästhetischen Erfahrung.
Der Pfarrer Wilhelm Willms (1930-2002) hatte diese Phrase, welche auch Anatol nutzte, in einem Gedicht aufgegriffen und gab dieser eine theologische (Be-)Deutung. Aus einer existentiellen Sicht, welche die Ängste und Nöte innerhalb unserer Gesellschaft zur Basis hat, formuliert Willms dichterisch die Mahnung an alle Menschen, dass sie Gleich sind in dieser Welt.[36]
„im vorigen jahr habe ich in düsseldorf / eine kunstausstellung gesehen / in düsseldorf im ehrenhof / da lag vor dem eingang zur ausstellung / draußen / ein riesenbaumstamm / ganz verbrannt quer auf dem weg / so daß jeder besucher / dagegenlaufen musste / ein riesenbaumstamm / ganz schwarz verbrannt / und wenn man was näher hinsah / dann konnte man ganz schwach die / konturen / eines menschen erkennen / und unten am fuß / des riesenschwarzverbrannten / baumstammes / war eine eisengussplatte aufgeschraubt / und auf der platte standen / in eisen gegossen / die worte > / jeder mensch ist ein KÖNIG // diese inschrift überraschte / ein riesenschwarzverbrannter / baumstamm / liegt da am boden / mit der platte und der inschrift / jeder mensch ist ein könig // der künstler / ein ganz bekannter künstler / anatol herzfeld / der befreundet ist mit professor beuys / kämpft darum / sein ganzen schaffen geht darum / das allen menschen einzuhämmern / daß jeder mensch ein könig ist // jeder /// und da liegt nun der mensch / verbrannt und verstümmelt /// und da sitzen und stehen wir nun / wir menschen wir alle / auch wir / ja verstümmelt / verängstigt / unerlöst / gar nicht königlich / unter zwängen in ängsten / unfrei / jeder mensch ist ein könig // jeder mensch ist dazu / in die welt gekommen / ein könig zu sein / so könig zu sein / nicht andere zu beherrschen / sondern andere zu erlösen / daß auch sie könig werden // in dem sinne war jesus christus könig / in einem befreienden sinne / nicht in einem triumphalischen sinne / wie es manchmal ausgelegt wurde // er war könig / in dem sinne wie jeder mensch / könig sein könnte und müsste / jeder mensch ist ein könig / dazu ist jeder in die welt gekommen / um könig zu sein / könig zu werden // so weit sind wir noch nicht / deshalb ist es wichtig / immer wieder dieses bild / des wahren menschen / vorzustellen / sich dieses wahre bild des menschen / ein-zu-bilden / jesus christus ist das wahre bild / des menschen // es erbarme sich unser der lebendige gott / der gott der seine sonne aufgehen läßt / über gute und böse / er verzeihe uns unsere schuld / wie auch wir einander / unsere schuld verzeihen / und er führe uns so / miteinander zu einem neuen / und ewigen leben / amen!“[37]
Das Thronen auf den Stühlen Anatols bedeutet die Erhebung des Besetzers zum König. In der Erfahrung des König-sein kommt jener ein Stück näher an das Verständnis des König-sein aller Menschen; wie Christus König war im Sinne der Befreiung. Im theologischen Sinne fungiert Christus als Heilswerkzeug einer „Erlösung des Menschen durch Gott“.[38] Willms beschreibt hierin ein Handlungsmotiv der Fremdbefreiung. Jeder Mensch als Werkzeug der Befreiung seiner Mitmenschen. Dieses ungelenke Gedankenkonstrukt widerspricht dem formulierten Bild einer Aufforderung zur mündigen Selbstbefreiung. „Jeder Mensch ein König“. Auch der verbrannte Baumstamm war Mensch, war König. Aus philosophisch-anthropologischer Sicht ist der Mensch ein »homo creator« (Michael Landmann, 1955; Wilhelm Emil Mühlmann, 1962), der nicht nur fähig seine Umwelt den notwendigen Lebensbedingungen anzupassen, sondern konzeptuell und planerisch seine Zukunft hinsichtlich der eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dieser schöpferische Schritt offenbart sich an einer ganzen Reihe von Kultstätten, die an kosmischen Ereignissen ausgerichtet wurden. Sie projizieren quasi die ungreifbare Wirklichkeit des Kosmos herab auf menschliches Maß und lassen kosmische Ereignisse unmittelbar erlebbar werden. An diese Tradition knüpft Anatol mit seiner Installation Die Kirche (1988) an. Es schwingt das magische Denken eines vorwissenschaftlichen Zeitalters mit; ganz im Gegensatz zur Rationalisierung der Aufklärung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.[39] Hierin bewegt sich Anatol mit seinen Stuhlobjekten. Sie sind Ausdruck eines vom Menschen geschaffenen und von einem Naturbild unabhängigen Ordnungsparadigmas. Gesellschaft, Staat und demokratisches Recht bilden den Hintergrund vor dem Anatol seine Objekte schafft. Sie stehen aber nicht im Gegensatz zu seinen Arbeiten mit mystisch-religiösem Tonus. Demokratie schließt stets ein und grenzt niemals aus. Somit ist der Mensch in Anatols Arbeiten stets ein sich selbst befreiender Mensch im Sinne der Aufklärung; er ist Mensch, Christus und Gott in Personalunion.
Fortsetzung in Jeder Mensch ist ein König
[1] Insgesamt lassen sich weit über dreißig Stuhlobjekte und Sitzplastiken im Werk Anatols ausmachen, die zum Teil als Installationen aus mehreren Sitzobjekten bestehen. Je nach Enge oder Weite des Definitionsraumes von »Stuhl« und »Sitzen«, fallen u.U. weitere Arbeiten Anatols hinzu oder weg. So ließen sich die Arbeiten Die Afrikanerin (1974) und Der Afrikaner (1976) ebenfalls als Sitzobjekte betrachten. Da zu Anatol bis dato kein Werkverzeichnis erstellt wurde, können keine Angaben über die genaue Anzahl solcher Objekte gemacht werden.
[2] Anatol: Beuys-Stuhl, 1966, Blei, vergoldet. 34 x 16,5 x 26 cm, Privatbesitz, Kranenberg.
[3] Dieser Vergleich ist stark reduziert und gibt nicht die tatsächlichen Bezüge wieder. Es finden sich keine direkten Formübernahmen, welche altägyptische Thronskulpturen illusionieren würden. Von einem, den verstorbenen, göttlichen Pharaonen und den Göttern vorbehaltenen Blockthron, weicht Anatol in der Gestaltung in mehrfacher Hinsicht ab. Es tauchen, abgesehen von Schrift, keine ornamentalen oder anderen gestalterischen Verzierungen auf, die Rückenlehne ist deutlich zu hoch und die gesamte Plastik Anatols weist keinen Sockel auf. Die Bedeutung des Thrones für die ägyptische Herrschaftstradition zeigte Klaus P. Kuhlmann auf (Kuhlmann, Klaus P. (1977): Der Thron im alten Ägypten; Untersuchungen zu Semantik, Ikonographie und Symbolik eines Herrschaftszeichens. Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo: Ägyptologische Reihe Bd. 10. Glückstadt: Augustin, S. 7, 25f, 34f, 40 u. 46-48. Dazu auch Eickhoff, Hans Joachim (Hajo) (1990): Sitzen bleiben; Sedative Strukturen als anthropologische Ordnung. Mikrofiche. Univ. Diss. FU Berlin, S. 13f und ders. (1993): Himmelsthron und Schaukelstuhl; Die Geschichte des Sitzens. München et al.: Hanser, der sich zu seinen Ausführungen auf Kuhlmann stützt).
[4] Odin auf dem Thron, 9 Jhd. u.Z., Vergoldete Silberstatue mit Metalleinlagen, 17,5 x 19,8 x 12,4 mm, Fund aus Gammel Lejre, Dänemark, heute im Museum Roskilde. Es handelt sich hierbei um eine untypische Darstellung; Figuren sind in der Regel auf skandinavischen Thronkleinoden nicht repräsentiert. Die Identität wie auch das Geschlecht der Figur sind zudem bislang umstritten und Marijane Osborn fügt hinzu, dass der künstlerische Fokus mehr auf den Raben, denn auf der Figur liegt (Osborn 2015, S. 94f, 97, 111). In ihrem Aufsatz gibt sie eine Skizze möglicher bildnerischer Typenmigrationen aus dem griechisch-römischen und frühchristlichen Raum (Osborn, Marianne (2015): „The Ravens on the Lejre Throne; Avian Identifiers, Odin at Home, Farm Ravens.“ In: Bintley, Michael; Williams, Thomas (Hgg.) (2015): Representing Beasts in Early Medieval England and Scandinavia. Woodbridge, S. 94-112; Christensen, Tom (2009): „Odin fra Lejre“. In: Romu; årsskrift fra Roskilde Museum, 2009, S. 6-25 ). Eine Reihe weiterer Throne und Throndarstellungen mit und ohne Figuren wurden u.A. Von Hans Drescher und Karl Hauck 1982 beschrieben: Drescher, Hans; Hauck, Karl (1982): „Götterthrone des heidnischen Nordens“, In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 16, 1982, S. 237-301.
[5] Anatol: Gebärende, o.J. (ca. 1972), Blei, unbekannte Maße, zuletzt: Onnasch Galerie (Katalog Köln (1973): Anatol; Arbeitszeit bei Onnasch. Onnasch Galerie. Köln, o.S.).
[6] Anatol: Königsstuhl, 1969, Stahl, ca. 160 x 50 x 50 cm, Städtisches Museum Abteiberg Mönchengladbach, entstanden im Rahmen der Aktion Königsstuhl und Hausbau, die am 19.9.1969 im Städtischen Museum Mönchengladbach durchgeführt wurde.
[7] Zumindest ist der Zugang nicht beschränkt und wird nach Kenntnissen des Autors nicht kontrolliert.
[8] Grundlegend zur Materialikonographie, bzw. Materialästhetik siehe Wagner, Monika (2001): Das Material der Kunst; Eine andere Geschichte der Moderne. München: Beck.
[9] Bereits im 19. Jahrhundert wurde die alchimistische Verwandlung nicht länger nur als die Veränderung von Metallen verstanden, sondern zunehmend auf das geistige Leben des Menschen angewendet: so in der Psychologie Carl Gustav Jungs, welche in Bezug zu Rudolf Steiners Anthropologie steht. Beide hatten Einfluss auf die künstlerischen Ideen von Joseph Beuys. Im Zusammenhang mit Beuys macht Verena Kuni darauf aufmerksam, dass zahlreiche Künstler des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts okkulte Ideen rezipierten (Kuni, Verena (2006a): Der Künstler als ‚Magier‘ und ‚Alchemist‘ im Spannungsfeld von Produktion und Rezeption; Aspekte der Auseinandersetzung mit okkulten Traditionen in der europäischen Kunstgeschichte nach 1945; Eine vergleichende Fokusstudie ausgehend von Joseph Beuys. Band I. Univ. Diss. Marburg: Elektr. Publ., S. 73f sowie S. 221 Fußn. 54 und Kapitel III.9).
[10] Lichtenstern, Christa (1990): Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 1: Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes; von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, S. 143.
[11] Zu den Elementen der Beuys-Ikonografie zählen neben Hase, Hirsch, Kreuz und Krummstab eben auch Hut und Weste. (dazu Schütze, Yvonne (1998): Kleidung als und im Kunstwerk des 20. Jahrhunderts unter sozialtheoretischer Perspektive. Univ. Diss. Wuppertal: Elektr. Publ., S. 197f und Kuni 2006a, S. 229; dort weitere Literaturverweise).
[12] Die ikonische Bedeutung des Huts für das Erscheinen von Beuys zeigte Franz-Joachim Vestpohl auf und datiert das erstmalige Auftreten des Huts bei Beuys auf die Jahre zwischen 1955 und 1958 (Verspohl, Franz-Joachim (1986): „Joseph Beuys; Das ist erst einmal dieser Hut“. In: Kritische Berichte; Jg. 14, 1986, Nr. 4. Marburg: Jonas Verlag , S. 77–87; zur Datierung: S. 81).
[13] Diese Verbindung und Interpretation sind nicht unproblematisch. Beides setzt voraus, dass die Zeichenfolge tatsächlich ein Name ist und sie nicht Adjektiv, Substantiv oder Vergleichbares in einer anderen Sprache darstellt. Weiterhin können die Lettern mit dergleichen Berechtigung Ornament sein, wie sie (semantisch ausdeutbare) Schrift sein können; wenngleich keine für den Ornamentcharakter notwendigen Formwiederholungen vorhanden sind. Erst in der Wiederholung kann die Schwelle vom Zeichen zum Ornament überschritten werden. Für den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure erlangt das Zeichen seine Bedeutung erst aus der Differenz zu anderen Zeichen. Schrift ist ein System von Zeichen, welche in ihrer momentanen Verknüpfung eine je spezifische Bedeutung erzeugen. Auch Alfred Gell geht in seiner posthum erschienenen Schrift »Art And Agency« auf das Ornament ein als aktives Element ein (Gell, Alfred (1998): Art and Agency; An Anthropological Theory. Oxford: Clarendon Press, S. 73-95).
Eine Vereinigung von Schrift und Bild oder Objekt ist für das Schaffen Anatols typisch und findet sich insbesondere an jenen Stühlen verbreitet, welche Anatol in den 1970er Jahren für spezifische Personen schuf: den Galeristen Alfred Schmela, den Studienfreund Blinky Palermo (Peter Heisterkamp, geb. Schwarze), dessen zweite Frau Kristin Heisterkamp, geb. Hanigk und Heidi Müller (Ehefrau des Sammlers und Kunstmäzens Karl-Heinrich Müller). Die Stühle Kristin, Palermo und Heidi befinden sich heute in der Sammlung des Museum Insel Hombroich, Neuss. Weiterhin entstand 1973 in einer Aktion auf der Terrasse der Kunsthalle Düsseldorf eine Gruppe von Stühlen mit Tisch für vier Personen: Joseph Beuys (Düsseldorf, Europa), dem Techniker Nazareth (Kerala, Indien), dem Geschäftsmann Akio Kawakami (Tokio, Japan, Asien) und einem Theologen aus Gambia, Afrika. Die Arbeit wurde im Anschluss als Leihgabe an die Universität Bochum gegeben, wo sie im Botanischen Garten aufgestellt wurde. Heute sind die Stühle fast vollständig verrottet.
[14] Dazu Assmann, Aleida (2009): Erinnerungsräume; Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4. Auflage. München: C.H. Beck, S. 190.
[15] Die Begriffe Monument, Denkmal und Erinnerungszeichen haben ihre ureigenen Begriffsgeschichten, die nicht Deckungsgleich sind und, darüber hinaus, bis jetzt nicht vollständig aufgearbeitet wurden. Einige Begriffe, wie zum Beispiel »Mahnmal« und »Erinnerungszeichen« können heute als »Mode-Bezeichnungen« betrachtet werden, welche u.a. die Absicht verfolgen, sich vermeintlich (!) ideologisch vom »Denkmal« oder »Monument« als vorbelasteter Kategorie abzusetzen. Doch finden sich sowohl »Mahnmal«, wie auch »Erinnerungszeichen« als ideologisch belastete Vokabeln in der Literatur der NS-Zeit verbreitet; sowie auch bereits in den Jahrzehnten davor. In dem 1934 erschienenen Roman Shylock unter Bauern, verfasst von Karl Allmendinger und publiziert unter dem Pseudonym Felix Nabor, findet sich folgende Zeile: „Balt Jennerwein ist unvergessen, ein einfaches Mahnmal bezeichnet die Stelle, wo unter Mörderhänden dieser Held des Volkes für die Heimat fiel.“ (Nabor, Felix (1934): Shylock unter Bauern; Ein Roman aus deutscher Notzeit. Berlin-Schöneberg: Verlag Deutsche Kultur-Wacht, S. 170) Es existieren zahlreiche weitere Beispiele aus der Zeit zwischen 1933 und 1945, welche Strukturen jenes Mahnmalbegriffs beinhalten, bzw. vorbereiten, wie sie seit 1945 mit einem invertierten inhaltlichen Vorzeichen genutzt werden.
[16] Obwohl es sich hier um Schrift handelt, muss sie in differenzierter Weise als eine Art »Bildwerk-(In-)Schrift« bezeichnet werden. Sie ist keine Schrift im Sinne eines Gedächtnismediums, wie es von Aleida Assmann in ihrer Studie zur Kulturgeschichte von Gedächtnis und Erinnerung beschrieben wurde. Es handelt sich im vorliegenden Fall um eine auf ein Kunstwerk applizierte Schrift, das wiederum als mobiler Gebrauchsgegenstand einem besonderen Verfall ausgesetzt ist. Laut Assmann wird dem spezifischen Umgang mit Monumenten eine geringere Gedächtniswirkung zugeschrieben, als der Schrift, da letztere ihren Gehalt beständig neu zu reproduzieren vermag (Assmann 2009, S. 190f).
Da die Inschrift auf dem Beuys-Stuhl nicht alleine als Medium verstanden werden kann, sondern zugleich Präsenz ist, befindet sich die Gedächtnisfunktion – im Sinne Aleida Assmanns – zwischen Bild und Schrift (Zur Materialität des Zeichens siehe Buchwald, Dagmar (1992/1994): „Schrift – Geformte Materien“. In: Kotzinger, Susi; Rippl, Gabriele (Hgg.) (1994): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske; Konferens des Konstanzer Graduiertenkollegs «Theorie der Literatur»; Veranstaltet im Oktober 1992. Amsterdam: Rodopi, S. 377-387).
[17] Reuße, Felix (1995): Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit. Sprache und Geschichte Bd. 23. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 220-258.
[18] Da es sich bei »Beuys« um den Künstler Joseph Beuys handelt und nicht um beispielsweise die sagenhafte Gestalt des Sir Beuys von Southampton, dessen Name sich auch in den Variationen Bevis, Bevys oder Beuis überliefert findet, wird keine historische Sagenwelt referenziert, sondern das Kunstwerk als gegenwärtige Wirklichkeit verstanden, in der sich etwas mit und durch das Kunstwerk ereignet.
[19] Schefold, Karl (1990): Propyläen Kunstgeschichte; Die Griechen und ihre Nachbarn. Frankfurt/Main: Ullstein, S. 22.
[20] Arnold, Dorothea (2012): Die ägyptische Kunst. Beck’sche Reihe Bd. 2550. München: Beck, S. 98f.
[21] Meulen, Nicolaj van der (2002): Transparente Zeit; Zur Temporalität kubistischer Bilder. München; und Steiner, Uwe C. (1996): Die Zeit der Schrift; Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München.
[22] Held, Jutta; Schneider, Norbert (2007): Grundzüge der Kunstwissenschaft; Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder. Köln: Böhlau, S. 124f.
[23] Ob und inwiefern der Eigenname eine Bedeutung, abseits seiner referentiellen (denotativen) Funktion hat, ist innerhalb der theoretischen (philosophischen) Namensforschung nicht endgültig geklärt. Der Ansatz Saul Kripkes, welcher die Zuordnung von Name und Person in seiner Verbreitung und Nutzung innerhalb einer Gruppe von Menschen sieht (Wolf, Ursula (1985): „Einleitung“. In: Wolf, Ursula (Hg.) (1985): Eigennamen; Dokumentation einer Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-41; hier S. 23-26), würde das Platonische Postulat erfüllen, dass Schrift nicht den Ungebildeten belehrt, sondern den Gebildeten erinnert (Assmann 2009, S. 185f). Die Gehirnforschung hat gezeigt, dass der Name keine reale Person bezeichnet, sondern als Index der »Datenbestände« im menschlichen Gehirn zu einer Person fungiert. (Hansack, Ernst (2004): „Das Wesen des Namens“. In: Brendler, Andrea; Brendler, Silvio (Hgg.) (2004): Namenarten und ihre Erforschung; Ein Lehrbuch für das Studium der Onomastik. Lehr- und Handbücher der Onomastik Bd. 1. Hamburg: baar, S. 51-65; hier S. 56).
[24] Zur jüngeren Denkmalstradition führt Felix Reuße am Beispiel des Heinrich Heine-Denkmals von Ulrich Rückriem in Bonn das Problem der Identität von Memorialobjekt und Kommemoriertem an. Der Namenszug ist austauschbar, da kein inhaltlicher Bezug zwischen Bedeutung der Schrift und Form des Denkmals besteht. Insofern müssen Ort der Aufstellung, Material, Form und Name als Komplex wahrgenommen werden, die notwendig zur Entschlüsselung und Ausdeutung des Denkmals sind (Reuße, Felix (1995): Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit. Sprache und Geschichte Bd. 23. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 220-258).
[25] Am 26. November 1965 um 20 Uhr in der Galerie Schmela, Hunsrückenstraße 16-18, Düsseldorf, anlässlich der Eröffnung der Beuys-Ausstellung …irgend ein Strang. Zum Ablauf der Aktion in Wort und Bild siehe Schneede, Uwe M. (1994): Joseph Beuys; Die Aktionen; kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart: Hatje, S. 102-111.
[26] Die Deutung des auf einem Stuhl Sitzenden als eine Verbindung – im Sinne einer axis mundi – zwischen Himmel und Erde (oder Kosmos und Erde) führte Hajo Eickhoff in seiner Darstellung und Analyse der Kulturgeschichte des Sitzens aus (Eickhoff 1990, S. 176).
[27] Als Maske bezeichnet Anne Schloen, unter Rückgriff auf Uwe M. Schneede, die Goldschicht auf Beuys Haupt, durch die er zum Schamanen wird und damit in der Lage ist mit dem toten Hasen zu sprechen. (Schloen, Anne (2006): Die Renaissance des Goldes; Gold in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Textband. Univ. Diss. Köln: Elektr. Publ., S. 197f und 201) Sie nutzt dabei, neben Aussagen von Beuys, vor allem die heidnische Symbolik und christliche Ikonographie zur Deutung des Goldes bei Beuys.
[28] Michel Serres beschreibt die Haut als eine »Mannigfaltigkeit«. Sie »ist geschmeidig; sie paßt sich an und bleibt stabil. (…) Sie greift nach den Dingen und begreift sie; sie impliziert und expliziert; sie tendiert zum Flüssigen; sie nähert sich dem Gemisch.« Zugleich dient die Haut »als Depot für Erinnerungen, als Lager für die dort eingegrabenen Erfahrungen, als Bank für unsere Eindrücke, als Geodätik unserer Zerbrechlichkeit. (…) Die Haut wird ebenso geprägt und beschrieben wie die Oberfläche des Gehirns und vielleicht sogar auf dieselbe Weise.« (Serres, Michel (1999): Die fünf Sinne; Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 83 und 95) Sieht man von der speziellen Vorstellung von Gedächtnis als Gravur ab, wie sie z.B. bei Platon zu finden ist (dazu Assmann 2009, S. 151f), zeigt sich für die Aktion von Beuys, dass er sich durch die Goldmaske der Elastizität und der Prägemöglichkeit entzieht und damit Nicht-Menschlich wird.
[29] Die objekthafte Erscheinung Beuys’ zeigt sich auch im Verhalten der Besucher: »Von den Besuchern wurde er betrachtet wie eines der Ausstellungsstücke, zu denen er auch gehörte« (Schneede 1994, S. 103).
[30] Das Gold als Reflektor des umgebenden Lichts vermag auszustrahlen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen aktiven Sender, sondern es wird nur das in den Raum zurückgeworfen, was dort vorhanden ist. Dieser »Glanz« ist im Doppelten Sinne ein »Schein«; er ist gekoppelt an das Sehen und aktiviert sich erst im Licht der für die Anschauung notwendigen Beleuchtung. Aus dieser Sicht ließe sich die Aktion von Beuys neu bestimmen, aber auch Anatols Plastik sehen. Der Inhalt des Kunstwerks, also sein Aussagewert lässt sich nur vom Betrachter aus denken und ermitteln. Anne Schloen betrachtet das Gold im Zusammenhang mit Beuys als an das Leben geknüpft, das im Falle der Arbeit Palazzo Regale als Gegenpol zu Dunkelheit und Tot steht. (Schloen 2006, S. 151) Die Dichotomie von Leben und Tot findet sich im Falle der Aktion Wie man dem Toten Hasen die Bilder erklärt bereits in der Sitzhaltung realisiert, bzw. als Folge der Unterhaltung zwischen Mensch und totem Tier, welche erst durch die »Transformation« Beuys in einen Schamanen, also ein Medium, durch die Goldmaske realisierbar ist. Negativ ausgedrückt bedeutet dies, dass Beuys selbst nichts zu sagen hat, seine Kunst keine Aussage im semiotischen Sinne besitzt, sondern Zeichen und Verhältnisse beinhaltet, die den Rezipienten zum Reflektieren über Kunst und sich selbst animieren. Zugleich wäre dies eine Immunisierungsstrategie gegen jegliche inhaltliche Kritik.
[31] Der Volksbegriff ist insbesondere in Bezug auf Beuys kritisch zu betrachten, da er eine „gefährliche Nähe zu rechtskonservativen Ideen“ (Andreas Quermann, S. 21) aufweist. Dazu Quermann, Andreas (2006): »Demokratie ist lustig«; Der politische Künstler Joseph Beuys. Berlin: Reimer, insb. S. 20f.
[32] Damit steht Beuys kunsthistorisch nicht alleine; Jonathan Meese scheint mit seiner Forderung einer Diktatur der Kunst in die selbe provokante Kerbe zu schlagen. Beide Künstler sind im öffentlichen Diskurs gleichermaßen umstritten, wenngleich Meese die deutsche Vergangenheit und Vorstellungen von »Deutsch-Sein« bewusst symbolisch ausschlachtet und gezielt einsetzt.
[33] Damit ist vor allem auf Beuys Selbstbildnis des »Heilers der Menschheit« gemeint. Dieses Wechselspiel zwischen Bewunderung und Verachtung war symptomatisch für das gesamte Schaffen von Beuys. Insbesondere seine Studenten hielten viel von seiner künstlerischen Position. Auch Anatol zählte (und zählt wohl noch) zu den gegenüber Beuys und dessen Lehren positiv eingestellten Menschen; gemeinhin auch abwertend als Beuysjünger bezeichnet. Inwieweit er mit seiner Nähe und Rezeption von Beuys (und dessen Lehren) manchmal über das Ziel hinausschoss, davon zeugt u.A. das Buch Der ganze Riemen von Johannes Stüttgen. Das subjektiv ausgerichtete und manchmal widersprüchliche Buch wird unterfüttert von zahlreichen Quellen, die zwar keine Objektivität garantieren, aber in seiner Sprachwahl stellenweise kritisch bleibt.
Für den Winterrundgang 1968 an der Düsseldorfer Kunstakademie berichtet Stüttgen von einem solchen Vorfall: „Zwischendurch geht Beuys mit dem Besen durch den Raum. Allmählich sammelt sich vor der Klassentür ein riesiger Abfallhaufen. (…) Alte, angefangene Arbeiten, die seit Wochen dastehen, ohne daß es weitergeht, müssen dran glauben. (…) Anatol kommt zur Tür herein und brüllt: ‚Mit eisernem Besen Ordnung schaffen!‘ Wenn Beuys in dieser Form in Fahrt ist, ist Anatol außer sich vor Bewunderung. Sofort greift er in die Aktion ein, nimmt das erste Beste, was ihm unter die Finger kommt, und schmeißt es (…) auf den Haufen. (…) Doch hat er noch kein Stück auf den Haufen geschmissen, da stoppt ihn Beuys: ‚Bist du verrückt geworden, Anatol! Das ist doch ein wichtiges Objekt. (…)‘“ (Stüttgen, Johannes (2008): Der ganze Riemen; Der Auftritt von Joseph Beuys als Lehrer. Die Chronologie der Ereignisse an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf 1966 – 1972. Köln: König, S. 214). Die Veränderungen und Konflikte innerhalb der Klasse Beuys zeichnet Petra Richter in ihrer Dissertation nach (Richter, Petra (2000): Mit, gegen, neben; Die Schüler von Joseph Beuys. Düsseldorf: Richter).
Riegels Beuys-Biographie wird beispielsweise von Christoph Siemes in Die Zeit (Nr. 22/2013) und von Georg Imdahl in der Süddeutschen Zeitung (SZ vom 16.7.2013) kritisch besprochen. Zusammengenommen werfen die Autoren Riegel den Versuch vor, Beuys und seinem Werk „die Maske herunterreißen“ zu wollen (Imdahl), um ihn damit, so könnte man folgern, zu diskreditieren. Dies betont auch Siemes durch Aufzeigen, wie Riedel trotz einer intensiven Faktenrecherche immer wieder ins Spekulative gerät.
[34] Man mag in dieser Form künstlerischer Strategie einen Verweis auf kulturelle Identitätskonstruktionen finden, welche nahelegen, dass spezifische Kunstwerke durch Anatol für ein bestimmtes Publikum geschaffen wurden. Tatsächlich bedient sich Anatol vornehmlich des christlich geprägten europäischen („westlichen“) Kulturkreis. Inwiefern bei Anatol ein stark eurozentrischer Blick vorherrschend ist, kann angesichts des Forschungsdesiderats nicht hinreichend beantwortet werden. Klar ist jedoch, dass Anatol mit zahlreichen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen Kontakt hatte, mit diesen zusammenarbeitete oder ihnen eine Form von Denkmal setzte (z.B. Kreuzblütler von 1973 für Beuys, Akio Kawakami, Nazareth und einen Theologen aus Ghambia; oder Arbeitszeit zur Schaffung des Afrikaners (1976) mit dem ghanaischen Musiker (Trommler) Mustafa (verm. Mustapha Tettey Addy). (YF (1976): „Sympathisches Dokument; Film über Anatols ‚Arbeitszeit’“. In: Rheinische Post. 1976, 18. Dez. 1976)). Zugleich ist die christliche Kulturtradition im Werk Anatols überrepräsentiert.
[35] Dabei gibt es freilich auch einzelne Objekte, die sich einer Benutzbarkeit entziehen, sei es aus einem künstlerischen Eingriff heraus, oder aufgrund von konservatorischen Gesichtspunkten.
[36] Die Motive Gleichheit und Freiheit tauchen bei Anatol auch im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit der Französischen Revolution auf (Bott, Gerhard et al. (Hgg) (1989): Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit; 200 Jahre Französische Revolution; Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 24.6.-1.10.1989. Nürnberg, S. 750f).
[37] Willms, Wilhelm (1979): roter faden glück. Lichtblicke, meditationen, erzählte bilder, texte lieder, musical >ave eva<. 3. Auflage. Kevelaer, o.S.; hier Kap. 4.1. Das Gedicht nimmt Bezug auf eine Aktion Anatols, die vom 24.11. bis 1.12.1972 unter dem Titel 8 Tage Kinderaktion im Kunstmuseum Düsseldorf (Museum Kunst Palast) stattfand. Gemeint ist vermutlich die bereits zur Documenta 5 gezeigte Arbeit Der Schlafende König.
[38] Härle, Wilfried (2007): Dogmatik. Reihe: De-Gruyter-Lehrbuch. 3. Aufl. Berlin et al.: de Gruyter, 335-339.
[39] Kant, Immanuel (1784): „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: Berlinische Monatsschrift Bd. 4, Nr. 12, 1784, S. 481–494.