Malerei zwischen Ordnung und Chaos

Zu einem Bild von Carl Krasberg

Nimmt man die Arbeiten Carl Krasbergs in Augenschein, so fallen in der Regel zuerst die sorgfältig gerasterten und farbig gefüllten Quadratreihen auf. Die präzise technische Ausführung oder auch handwerkliche Genauigkeit sind die Grundvoraussetzung für Krasbergs Malerei. Anders herum ausgedrückt ist das systematische und sorgfältige Arbeiten die Grundlage, die ein nachvollziehbares Forschen und Experimentieren erst möglich macht. Hier klingt eine Nähe zu Gedanken um die Bedeutung von Inspiration, Kreativität und Rationalität an, die seit der Aufklärung als Quelle für Kunst und Wissenschaft galt und die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zur Folge hatten.[1] Unter anderen mag man an Friedrich Wilhelm Hegels Ästhetik von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert denken, in der er die Kunstschönheit zwischen dem Sinnlichen und dem „reinen Gedanken“ positionierte. Oder auch an Künstler des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich zunehmend Errungenschaften aus der Mathematik, Philosophie und insbesondere aus der Optik für ihre Kunst und Theorien zueigen machten, um moderne Kunstwerke zu schaffen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts beförderten dann vor allem Physik, Kybernetik und Strukturalismus Entwicklungen der konkreten Kunst.[2]

Wenngleich Krasberg einen direkten Bezug zur Mathematik ablehnt[3] kann er sich dennoch mit „mathematischen Denkweisen“ früherer Generationen programmatisch arbeitender Künstler identifizieren. Auch Max Bill, einer der prominenten Theoretiker der konkreten Kunst, orientierte sich in seinen Schriften an diesem Denkbegriff.[4] Für ihn waren jegliche bildnerischen Mittel gleichberechtigt, solange sie zur „realisation einer bestimmten, objektiv feststellbaren idee“[5] führten. Er formulierte so einen der zentralen theoretischen Ansätze der konkreten Kunst der 1950er und 1960er Jahre.[6] Anders verhält es sich bei Carl Krasberg. In seiner 2011 entstandenen Arbeit O 42 aus der mit dem Zusatz color movements versehenen Reihe baut sich zwischen Komposition und Bildwirkung eine auf Kontrasten beruhende Spannung auf.[7] Das hochrechteckige Bild setzt sich aus horizontalen Farbbalken zusammen und offenbart auf den ersten Blick eine Teilung in zwei sich überlagernde und ineinander verzahnte Ebenen von Streifen. Der Hintergrund scheint durch einen Farbverlauf gebildet zu werden, der, oben beginnend, von Blau über Violett zurück zum Blau läuft und anschließend in helle rötliche Töne übergeht. Diese verändern sich zu Grün und Gelb, bis sie schließlich, über einen Wechsel von Rot und Gelb wieder beim Blau enden. Der Verlauf wird von der zweiten Ebene kontrastierender Farbstreifen überlagert. Bei genauer Betrachtung löst sich der anfängliche Eindruck einer geordneten Struktur auf. Versieht man die Balken von oben nach unten mit einer fortlaufenden Nummerierung, so wird deutlich, dass sich die Streifen mit dem erkennbaren Farbverlauf nach dem ersten Drittel des Bildes nicht länger auf den gerade nummerierten Zeilen befinden, sondern ein Austausch stattfindet. Der Betrachter erkennt also, dass er einen scheinbaren Zusammenhang im Bild sieht der aber tatsächlich so nicht gegeben ist. Die reinen Buntfarben ziehen sich in unserer Wahrnehmung genauso zu einer vermeintlichen Einheit zusammen wie Streifen gleicher Helligkeit oder Dunkelheit. Dabei bleibt ihre tatsächliche Verteilung in dem Raster unberücksichtigt.

Das System, welches Krasberg seit einigen Jahren in dieser Form nutzt und das hinter diesen Illusionen steckt, ist, einmal erfasst, erstaunlich klar. Die 96 Zeilen des Bildes werden durch zwei in sich geschlossene Farbreihen zu je 48 Farben gefüllt. Ihre Grundlage bildet ein von Krasberg geschaffener 48-teiliger Farbkreis, dessen Elemente mit Abstufungen zu Weiß oder Schwarz sowie hinsichtlich ihrer Intensität auf Farbkarten festgehalten wurden. Zu jeder dieser Karten wurde ein „Rezept“ notiert, mit dem aus Pigmenten die entsprechende Farbe angemischt werden kann. Für jede Farbreihe läuft Krasberg den Farbkreis ab und ändert schrittweise ihre Trübung oder Sättigung. Damit die Farbreihe 48 Elemente erreichen kann, muss der Farbkreis doppelt umrundet werden, was zur Folge hat, dass jede Farbe zweifach vorhanden ist – oft jedoch in anderer Trübung oder Sättigung. Anders ausgedrückt gewinnt Krasberg die Farbreihe aus einer räumlichen Bewegung durch die Farbkugel, beziehungsweise den Farbdoppelkegel, der sich an Wilhelm Ostwald anlehnt, welcher zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein auf den Harmoniegesetzen beruhendes Farbsystem entwarf.[8] Ausgangspunkt beider Farbreihen ist ein vom Künstler festgesetztes Farbverhältnis; zum Beispiel ein Farbkontrast, oder aber auch ein Hell-Dunkel-Kontrast. Aus den ineinander verzahnten Farbreihen bilden sich im Auge des Betrachters Strukturen und Muster. Im Bild O 42 entsteht beispielsweise eine Räumlichkeit, die uns glauben macht, wir sähen zwei übereinander liegende Ebenen, die sich in Bereichen gleicher Helligkeit oder Dunkelheit einander annähern.

Krasbergs Arbeiten oszillieren zwischen den Polen des geordneten Experiments und des freien Spiels. Sie berühren zunächst den kalkulierbaren Bereich konkreter Kunst, finden aber ihren unvorhersehbaren Ausdruck in der Wirkmächtigkeit der Farbe. Obwohl sich Krasberg mit den Phänomenen der Farbe auseinander setzt, nimmt seine Kunst Abstand von den utopischen Vorstellungen der frühen Konkreten. Sein bildnerischer Ausdruck stellt nicht den Versuch der Entwicklung zu einer universellen Sprache dar, sondern ist das Resultat einer Kette systematischer Arbeitsabläufe und individueller Entscheidungen. Die Vielzahl an Ordnungssystemen, welche auf die erzeugten Farbreihen angewendet werden können, spricht gegen die Entwicklung einer allgemeinen Bildsprache. So sind Krasbergs Experimente auf die Entwicklung unterschiedlicher visueller Angebote an den Betrachter gerichtet, der aufgrund seines Wahrnehmungsapparates das Muster hinter den akkurat gemalten Bildern zu entschlüsseln versucht.[9] Das Ergebnis des an einem Bild vollzogenen Analyseprozesses lässt sich jedoch nur schwer auf andere Bilder übertragen. Es gibt keine für alle einheitlich festgelegten Gesetze. Intuitiv verändert Krasberg die eigenen Vorgaben zu den Farbreihen und ihrer Systematik. Mal springt innerhalb der Farbreihe eine Farbe plötzlich zur Helligkeit, zur Dunkelheit oder sie wechselt ihre Intensität. Das Resultat wird als horizontaler oder vertikaler Schnitt in den vollendeten Bildern sichtbar. Nicht aus der Entschlüsselung des angewendeten Systems zieht der Betrachter eine Erkenntnis, wie es zum Beispiel Max Bill forderte, sondern aus der phänomenologischen Erscheinung des Bildes.

Es ist der Betrachter, welcher in den systematisch versetzten Farbstreifen Illusionen von vorne und hinten, von Bewegung nach oben oder unten erblickt. Zentren, Strukturen oder komplexe Muster ergeben sich erst im Vollzug der Anschauung und das systematisch-konkrete Bild wandelt sich in seiner Wirkung zu einem nicht vorhersehbaren und offenen Kunstwerk. Bereits eine kleine Veränderung am System verändert die Wirkung des Bildes in beträchtlichem Maße. Man mag die Krasbergsche Malerei somit als Ausdruck eines „deterministischen Chaos“ sehen, wie es 1963 durch den Mathematiker Edward Lorenz im Zuge seiner computergestützten Analyse und Vorhersage von Wetterphänomenen entdeckt und in den 1970er Jahren von seinen jüngeren Fachkollegen James Yorke und Tien-Yien Li begrifflich gefasst wurde.[10] Somit birgt unter Einbezug des Betrachters auch die Malerei Mechanismen, die der Natur zu Eigen sind. Diese lassen sich als visuell begreifbare Erscheinungen parallel zu den mathematischen Modellen der Natur setzen. Die Malerei bekommt dadurch ganz im Sinne Max Bills den Status einer eigenständigen Erkenntnisform.

 

[1] Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper, Köln et al. 2008, S. 39-67.

[2] Britta Schröder: Konkrete Kunst. Mathematisches Kalkül und programmiertes Chaos, Berlin 2008, S. 46.

[3] Carl Krasberg im Gespräch mit dem Verfasser am 2. Nov. 2011.

[4] Max Bill: Die mathematische Denkweise in der Kunst unserer Zeit, in: Das Werk, Vol. 36 1949, S. 86-91.

[5] Max Bill: vom sinn der begriffe in der neuen kunst, in: konkrete kunst. 50 jahre entwicklung, Ausst.Kat. Helmhaus Zürich, Zürich 1960,    S. 58-60, hier S. 60.

[6] Schröder, 2008, S. 33.

[7] Carl Krasberg: O 42 (color movements), 2011, Öl auf kunststoffbeschichteter Platte, 38,5 x 104,5 cm.

[8] Isabel Haupt: Wilhelm Ostwald (1853-1932). Die Farbenfibel, 1916. Der Farbenatlas, in: Farb-Systeme 1611-2007. Farb-Dokumente in der Sammlung Werner Spillmann, Hrg. von Werner Spillmann. Basel 2009, S. 114-125; hier S. 114.

[9] Schröder, 2008, S. 103f.

[10] Ebd., S. 95.

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